Vor 50 Jahren, am 30. April 1975, endete mit der Eroberung Saigons durch die Truppen des kommunistischen Nordens und der chaotischen Flucht der letzten in der südvietnamesischen Hauptstadt verbliebenen US-Soldaten der Vietnamkrieg. Der Zusammenbruch der Republik Vietnam, die von den USA im Stich gelassen wurde, liefert ein Lehrstück über die katastrophalen Folgen der Illusion, Demokratien könnten mit totalitären Mächten verlässliche Abkommen treffen, wenn sie nicht aus einer Position der Stärke verhandeln. Obwohl Vietnam ein schmerzhaftes Beispiel dafür lieferte, was geschieht, wenn das nicht der Fall ist, wiederholte sich das Desaster in Afghanistan 2021. Dass aber der Ukraine jetzt ein ähnlicher fauler “Frieden” aufgezwungen wird, muss unbedingt verhindert werden.
Bittere Ironie der Geschichte: Obwohl Vietnam fünfzig Jahre nach dem Ende des grausamen Kriegs noch immer von einer brutalen kommunistischen Diktatur beherrscht wird, lehnt es sich heute eng an die Vereinigten Staaten an – aus Furcht vor der Aggression des totalitären China.
Der folgende Text basiert auf meiner Kolumne, die zuerst 2023 auf Deutsch hier und auf Ukrainisch hier erschienen ist:
Mit autoritären und totalitären Mächten, die sämtliche Normen des internationalen Rechts negieren und keinerlei Respekt vor der Menschenwürde kennen, ist für Demokratien ein dauerhaft tragfähiger “Kompromiss” oder “Interessensausgleich” nicht möglich. Sofern sie mit ihnen temporäre Abkommen treffen, darf dies nur aus einer Position der Stärke heraus geschehen – und unter Bewahrung der Fähigkeit, adäquat zu reagieren, wenn die andere Seite die Vereinbarung bricht.
Ein paradigmatisches Beispiel dafür, welche Folgen es hat, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist das vermeintliche Friedensabkommen, das die USA Ende Januar 1973 mit dem kommunistischen Nordvietnam schlossen. Es sah den Abzug der US-Truppen aus Südvietnam innerhalb von sechs Wochen vor. Zurück blieben nur einige Tausende US-Militärberater für die südvietnamesische Armee. Nordvietnam aber wurde zugestanden, 140.000 Soldaten auf dem von ihm erobertem Territorium im Süden des Landes zu belassen. Auf dieser Grundlage sollten die Kriegshandlungen beendet und die “Wiederherstellung des Friedens” gewährleistet werden.
Vietnam unter kommunistischem Terror
Davon konnte jedoch keine Rede sein. Denn das kommunistische Regime in Hanoi hatte niemals die Absicht, seine im “Vertrag von Paris” eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten. Es betrachtete ihn vielmehr lediglich als eine Etappe auf dem Weg zur Eroberung des gesamten Südens. Ohne die Unterstützung durch US-Truppen hatte die südvietnamesische Armee gegen die Übermacht der von der Sowjetunion und der Volksrepublik China hochgerüsteten Truppen Nordvietnams keine Chance. Allein bis Ende 1974 verloren über 76.000 südvietnamesische Soldaten in dem unvermindert fortgesetzten Krieg ihr Leben. Durch die ausbleibende US-Finanzhilfen stürzte Südvietnam zudem in eine schwere Wirtschaftskrise,
Ende April 1975 hatten die nordvietnamesischen Kommunisten ihr Ziel erreicht. Mit der Einnahme der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon, heute Ho Chi Minh-Stadt genannt, ergriffen sie die Macht im ganzen Land und errichteten ihr totalitäres Regime. Die Folge war die Flucht von mehr als 1,6 Millionen Vietnamesen, den “Boat People”, die dem massiven kommunistischen Terror in Booten über das Meer zu entkommen versuchten. Schätzungsweise 200.000 Südvietnamesen waren unmittelbar nach der Machtübernahme durch das nordvietnamesische Regime hingerichtet worden, etwa 165.000 willkürlich oder für ihre Tätigkeit für US-Einrichtungen inhaftierte Menschen starben in “Umerziehungslagern”, wobei Tausende von ihren Wärtern zu Tode gefoltert oder vergewaltigt wurden, ungefähr 50.000 starben in Folge von Zwangsarbeit.
Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu makaber, dass die Chefunterhändler der USA und Nordvietnams, Henry Kissinger und Le Duc Tho, für den Abschluss des Pariser Vertrags den Friedensnobelpreis des Jahres 1973 erhalten hatten (den allerdings nur Kissinger annahm). Angesichts der desaströsen Auswirkung dieses Abkommens stellt sich generell die Frage, woher eigentlich Kissingers bis heute anhaltender Ruhm als vermeintlicher Meisterdiplomat rührt. Der “Vertrag von Paris” jedenfalls war weit davon entfernt, ein leuchtendes Beispiel für kluge demokratische Außenpolitik zu sein. Vielmehr stellte er im Endeffekt nichts anderes dar als eine verklausulierte Kapitulationserklärung der Vereinigten Staaten.
Fatale Wiederholung
Gewiss sind die Umstände, unter denen dieser Vertrag zustande kam, mit der aktuellen Situation etwa in der Ukraine kaum vergleichbar. Die USA verließen Vietnam, nachdem sie dort über viele Jahre hinweg erfolglos einen verlustreichen Krieg geführt hatten. Und sie verteidigten in Südvietnam keine Demokratie, sondern eine brutale und korrupte Diktatur. Dennoch waren die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung Vietnams im Süden des Landes weitaus günstiger als im totalitär gleichgeschalteten Norden.
Die Beispiele Südkorea und Taiwan zeigen, wie sich repressive Systeme längerfristig und auf evolutionärem Weg in Demokratien verwandeln können, wenn sich in ihnen eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt. Eine totalitäre Herrschaft jedoch löscht solche zivilgesellschaftlichen Ansätze vollständig aus und zerstört das Zukunftspotenzial einer ihr unterworfenen Nation über Generationen hinweg. Am Iran etwa zeigt sich, wie fatal es ist, wenn eine “konventionelle” Diktatur durch eine noch schlimmere, die zivilisatorischen Grundlagen einer Gesellschaft radikal negierende Tyrannei ersetzt wird. Zu verhindern, dass sich solche totalitäre Gewaltregime etablieren können, muss daher das oberste Gebot demokratischer Globalpolitik sein.
Die Tragödie Vietnams wiederholte sich jedoch auf ähnliche Weise jüngst in Afghanistan. Das “Doha-Abkommen”, das die US-Regierung unter Präsident Donald Trump im Februar 2020 mit den Taliban schloss – einer der katastrophalsten “Deals”, die der vermeintliche, in Wahrheit aber komplett unfähige “Dealmaker” je geschlossen hat – erwies sich als nicht das Papier wert, auf dem es festgehalten wurde. Die vietnamesischen Kommunisten hatten 1973 ihre Unterschrift nur deshalb unter das Abkommen gesetzt, weil es ihnen mit den US-Truppen das entscheidende Hindernis für ihre Machtergreifung aus dem Weg räumte. Mit demselben Kalkül unterzeichneten die totalitären afghanischen Islamisten die Vereinbarung von 2020. Das Grauen, das damit über Afghanistan kam, muss den westlichen Demokratien eine ultimative Mahnung sein, derartiges nie und nirgendwo ein weiteres Mal zuzulassen – schon gar nicht mitten in Europa.