Portugal: So veränderte die “Nelkenrevolution” Europa

Vor 51 Jahren, am 25. April 1974, fand in Portugal ein Aufstand für die Freiheit statt, dessen überragende Bedeutung für die Durchsetzung der Demokratie in Europa heute viel zu wenig gewürdigt wird – wenn er nicht längst vergessen ist. Dabei ebnete die “Nelkenrevolution” den Weg zum Sturz der letzten Diktaturen im westlichen Europa – und damit indirekt auch zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa. Dazu im Folgenden meine Kolumne, die zum 50. Jahrestag des Umsturzes vor einem Jahr hier und hier erschienen ist.

Das Jahr 1974 markiert einen entscheidenden Einschnitt in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die “Nelkenrevolution” in Portugal brachte dem Land die Demokratie und beendete endgültig die Epoche des europäischen Kolonialismus. Der Aufstand von Ende April entfesselte in der portugiesischen Gesellschaft einen regelrechten Freiheitsrausch und sendete damit ein starkes Signal, dass es für Diktaturen im westlichen Teil Europas keinen Platz mehr gab.

Im Juli desselben Jahres wurde folgerichtig in Griechenland die seit dem Putsch von 1967 herrschende Militärjunta gestürzt, und es gelang dort innerhalb weniger Monate die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen. 1976 begann schließlich die schrittweise Demontage der Diktatur in Spanien und der gleitende Übergang des Landes in die Demokratie, der mit den freien Wahlen vom Juni 1977 besiegelt wurde – gut eineinhalb Jahre, nachdem Francisco Franco gestorben war, dessen Gewaltherrschaft Spanien fast vierzig Jahre lang im Würgegriff von Unterdrückung und Rückständigkeit gehalten hatte.

Die Entscheidung Portugals, Griechenlands und Spaniens für die Demokratie öffnete ihnen das Tor zur Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft, die spätere EU, und damit zu einem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Griechenland wurde 1981 Mitglied der Union, Portugal und Spanien folgten 1986.

Epoche im Brennglas

Die Vorreiterrolle für diese Entwicklung kam indes Portugal und seinem spektakulären Durchbruch zur Freiheit zu. Was am 25. April 1974 als Putsch junger Offiziere der “Bewegung der Streitkräfte” (MFA) begann, die in erster Linie den blutigen Krieg in den portugiesischen Kolonien in Afrika beenden wollten, ging blitzartig in einen Volksaufstand über, dem das seit fast fünfzig Jahre herrschende, marode diktatorische Regime nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Dem folgte die unverzügliche Einstellung des Kolonialkriegs und die zügige Auflösung des portugiesischen – und letzten europäischen – Kolonialreichs. Doch bis in Portugal eine stabile rechtstaatliche liberale Demokratie etabliert war, musste das Land noch zwei Jahre voller gefährlicher Turbulenzen überstehen.  Wie in einem Brennglas reproduzierten sich darin noch einmal die großen ideologischen Konfrontationen des 20. Jahrhunderts.

Massiv unterstützt durch die Staaten des Sowjetblocks, allen voran die DDR, gewannen zunächst die portugiesischen Kommunisten massiven Einfluss. Zeitweise bestand Grund zu der Befürchtung, dass sie Portugal in eine “Volksrepublik” nach dem Vorbild der sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa verwandeln könnten. Innerhalb der MFA, die übergangsweise die Staatsmacht in Händen hielt, kam es zu heftigen Fraktionskämpfen. Sie kulminierten in einem Putschversuch rechtskonservativer Militärs im März 1975 einerseits und einer vom äußersten linken Flügel der Streitkräfte ausgelösten Meuterei im November desselben Jahres andererseits

Das Exempel Portugal

Am Ende jedoch setzten sich die Kräfte der politischen Mitte durch, die eine Demokratie nach westlichem Muster anstrebten. Maßgeblichen Anteil an diesem historischen Erfolg hatten die deutschen Sozialdemokraten, auf deren Initiative 1973 die portugiesische Sozialistische Partei (PS) unter dem späteren Ministerpräsidenten Mario Soares im Exil gegründet wurde. Die PS bewährte sich im Verlauf der Revolution als wichtigste politische Säule der demokratischen Transformation und als wesentlicher Faktor bei der Abwehr extremistischer Versuche, die Macht an sich zu reißen.

Umso beschämender ist es, dass die SPD den Dissidentenbewegungen in Osteuropa ein vergleichbares Ausmaß an Unterstützung vorenthielt. Die  “Entspannungspolitik” der SPD in den 1970er Jahren lief zunehmend darauf hinaus, ausschließlich auf Verhandlungen und Absprachen mit den herrschenden kommunistischen Regimen zu setzen. Oppositionelle galten dabei eher als Störfaktoren, die diesen Prozess der “Verständigung” zwischen den Mächtigen gefährden könnten.

Indirekt aber trug der Sturz der letzten westeuropäischen Diktaturen erheblich dazu bei, den Niedergang des sowjetischen Despotismus in Osteuropa zu beschleunigen. Die kommunistische Propaganda konnte nun nicht länger denunziatorisch auf den Widerspruch verweisen, dass sich die westlichen Demokratien als Bastion der Freiheit gegen den Sowjettotalitarismus präsentierten, ihrerseits aber mit mörderischen rechtsgerichteten Diktaturen kooperierten – und diese im Rahmen der Nato sogar als Verbündete akzeptierten. Jetzt nämlich stand Westeuropa als Ganzes für demokratische Freiheiten, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit. Die Anziehungskraft, die es damit auf die in totalitärer Gefangenschaft stillgestellten Gesellschaften des Sowjetblocks ausübte, war unwiderstehlich.

Pathos der Freiheit

Doch ein halbes Jahrhundert nach der “Nelkenrevolution” drohen die demokratischen Errungenschaften, die sie damals so eindrucksvoll erkämpfte, in ganz Europa verspielt zu werden. Massiv unterstützt von den aggressiven autoritären Mächten Russland und China diskreditieren und unterminieren rechts- und linksgerichtete Antidemokraten mit wachsendem Erfolg die Werte, auf denen diese Errungenschaften beruhen.  

Perfiderweise reklamieren sie dabei jenen Geist der europäischen Freiheitsrevolutionen für sich, der autoritäre Herrschaftsformen für immer vom Kontinent verbannt zu haben schien. Die demokratische Mitte hat es dagegen versäumt, das Pathos der Freiheit lebendig zu halten, von dem nicht erst die Erhebung von 1989, sondern auch schon der antidiktatorischen Umsturz von 1974 bis 1977 getragen wurde. In der trügerischen Gewissheit, die liberale Ordnung sei nunmehr alternativlos, ist in den europäischen Gesellschaften die kollektive Erinnerung daran verblasst, welches grauenvolle Unheil Diktaturen bis ins späte 20. Jahrhundert hinein über den Kontinent gebracht haben – und welch ungeheurer Anstrengungen es bedurfte, sie endlich vollständig zu beseitigen. Das macht viele Europäer anfällig für die neuen Lockrufe des Autoritarismus. Nur wenn es gelingt, das Freiheitspathos von 1974 und 1989 neu zu entfachen, wird die Demokratie in Europa überleben.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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