Über 600 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kunst, darunter der frühere ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko, der litauische Ex-Außenminister Gabrielius Landsbergis, die Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa sowie die deutsche Grünen-Politikerin Rebecca Harms und der französische Schriftsteller Jonathan Littell haben einen internationalen Aufruf veröffentlicht, in dem eine offensive Gesamtstrategie des Westens gegenüber dem Aggressorstaat Russland eingefordert wird.
Der Aufruf wurde formuliert, noch bevor Donald Trump Wolodymyr Selenskyj als “Diktator” diffamiert und mit seiner infamen Herabwürdigung des ukrainischen Präsidenten bei dessen Besuch im Weißen Haus endgültig klar gemacht hat, dass er kein “Friedensvermittler” ist, sondern der Erfüllungsgehilfe Putins, der die Ukraine in einen “Frieden” im Sinne des russischen Aggressors zwingen will. Obwohl dieses Vorgehen Trumps nebst der von ihm betriebenen Täter-Opfer-Umkehr international auf breite Kritik stieß, hat sich in der westlichen Öffentlichkeit inzwischen doch weitgehend die fälschliche Ansicht durchgesetzt, die Ukraine könne den Krieg ohnehin nicht gewinnen und habe daher früher oder später einem wie auch immer gearteten “Kompromissfrieden” zuzustimmen.
Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass der Westen Putins Aggression nicht wird stoppen können, wenn er sich immer weiter in die politische und diplomatische Defensive drängen lässt und die Ansprüche an den Aggressor immer weiter herunterschraubt – und schon gar nicht, wenn er den Raub ukrainischer Gebiete im Zuge des russischen genozidalen Vernichtungskriegs durch ein “Abkommen” legitimieren sollte.
Tatsächlich findet die von westlichen Politikern befürchtete “Eskalation” und Ausweitung des Krieges über die Ukraine hinaus längst statt – auch wenn er von Russland gegen den Westen vorerst “nur” hybrid geführt wird. Es liegt daher im Überlensinteresse der westlichen Demokratien, die russische Aggression in ihrer Gesamtheit zu betrachten und eine wirksame, zusammenhängende Abwehrstrategie zu entwickeln. Unglücklicherweise sind wir davon derzeit weiter davon entfernt denn je. Das macht es aber erst recht notwendig, die wirklichen Verhältnisse zu benennen und deutlich zu machen, was eigentlich getan werden müsste.
Hier der vollständige Text des Aufrufs, den auch ich unterschrieben habe, in deutscher Sprache. Er ist auch auf Englisch, Französisch, Spanisch, Bulgarisch und Italienisch erschienen, und es existiert zudem eine ukrainische Version (s. hier).
Den Einsatz verdoppeln. Eine Strategie des Westens für die Ukraine und für sich selbst
Russlands hybride Angriffe in der Ostsee, in Rumänien, Dänemark, Deutschland, Moldawien und Georgien werden immer stärker und zahlreicher. Es wird höchste Zeit für den Westen, zu erkennen, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine nur ein Teil eines viel größeren Projekts mit dem Ziel einer dauerhaften Zersplitterung und Schwächung des Westens ist.
Vor diesem Hintergrund würde jedes Szenario eines Einfrierens des Konflikts, vor allem in Verbindung mit der Stationierung europäischer Truppen entlang einer Demarkationslinie, die faktische Teilung der Ukraine bestätigen. Es würde nicht nur Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern zur Knechtschaft unter Putins Joch verurteilen und käme einem Verrat am Andenken an Zehntausende getöteter ukrainischer Soldatinnen und Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten gleich, sondern würde auch einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen: Ein Staat kann sich unter Anwendung von Gewalt neue Gebiete aneignen, einschließlich der extrem verletzlichen Gebiete im Fernen Osten Russlands, wie die von Russland im 19. Jahrhundert annektierte Äußere Mandschurei.
Das Argument, es sei Sache der Ukrainerinnen und Ukrainer, über die Bedingungen eines möglichen Friedens mit Russland zu entscheiden, verdeckt immer schlechter die Absicht einiger westlicher Staaten, sich ihrer Verantwortung zu entledigen.
Dabei decken sich die von den Ukrainerinnen und Ukrainern vertretenen Werte und Interessen vollständig mit denen, die der gesamte Westen zu verteidigen hat. Die Sicherheit, die Stabilität und das Überleben des Westens hängen direkt von der Sicherheit, der Stabilität und dem Überleben der Ukraine ab. Ebenso ist die Sicherheit der Vereinigten Staaten selbst untrennbar mit der Sicherheit Europas verbunden.
Es ist daher Zeit, dass der gesamte Westen mit einer umfassenden Strategie auf die Aggression Russlands reagiert. Dazu muss er klar die politischen und militärischen Ziele definieren, mit denen die Bedrohung, die Russland heute darstellt, beseitigt werden kann.
Gleichzeitig muss er ein klares Signal an all jene in der russischen Oligarchie senden, die sich bewusst sind, dass die von Putin angeführte Kriegspartei eine wahrhaftige Katastrophe für Russland vorbereitet.
Der Westen sollte folgende Ziele verfolgen:
● Den Rückzug der russischen Truppen aus allen derzeit besetzten ukrainischen Gebieten;
● die Freilassung aller Ukrainer*innen, inhaftierten Soldatinnen und Soldaten und inhaftierten Zivilisten und Zivilisten, einschließlich entführter Kinder und – aus welchen Gründen auch immer – „verurteilter“ Erwachsener;
● die Verpflichtung Russlands zur Entschädigung aller Familien der getöteten und verletzten ukrainischen Soldatinnen und Soldaten und Zivilistinnen und Zivilisten sowie für die zerstörte Infrastruktur;
● den Abbau der russischen Militärstützpunkte in Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Armenien;
● die Abhaltung freier Wahlen in Georgien und Belarus unter strenger internationaler Kontrolle;
● die Rückgabe der Kurileninseln Kunaschir, Iturup, Schikotan und Habomai, die seit 1945 von Russland besetzt sind, an Japan;
● Grünes Licht für den Beitritt der Ukraine, Moldawiens, Georgiens und Armeniens zur NATO.
Hierzu sollten mindestens die folgenden Mittel eingesetzt werden:
● Die Einrichtung eines Sonderfonds in Höhe von 300 Milliarden Euro innerhalb der NATO (ohne eingefrorene russische Gelder), der in den nächsten drei Jahren jährlich 100 Milliarden Euro für die Lieferung moderner Waffen an die Ukraine bereitstellen soll; die Beiträge der NATO-Mitgliedstaaten werden im Verhältnis zu ihrem BIP berechnet;
● die ständige Stationierung von 300.000 europäischen Soldaten unter NATO-Kommando an der Frontlinie in jedem Land – Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien –, das dies wünscht, um bei Bedarf schnell eingreifen zu können, wie es in Deutschland während des Kalten Krieges der Fall war;
● die Schaffung einer NATO-Struktur ähnlich dem Cocom im Kalten Krieg, um sicherzustellen, dass das Verbot von Waffenexporten und dualen Technologien an totalitäre Länder, insbesondere die VR China, Russland, den Iran und Nordkorea, eingehalten wird;
● Sanktionen aller NATO-Mitgliedstaaten gegen Bidzina Iwanischwili, den Anführer des „georgischen Traums“ und Putins Trojanisches Pferd in Georgien, sowie gegen alle georgischen Persönlichkeiten, die an der Aushebelung der georgischen Wahlen beteiligt waren.
Neben den bereits erwähnten zwingenden politischen, sicherheitspolitischen und moralischen Gründen würde diese außerordentliche Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 300 Milliarden Euro oder Dollar nur etwa 0,25 Prozent der jährlichen Ausgaben der NATO-Mitgliedstaaten ausmachen und wäre die beste Garantie für diese Staaten, in Zukunft nicht 3 Prozent oder mehr ihres BIP für Verteidigungsausgaben aufwenden zu müssen.
Sind die Freiheit der Ukrainer*innen, ihre und unsere Sicherheit nicht eine Haushaltsanstrengung von ein paar Zehntelprozenten wert?
Die vollständige Liste der Unterzeichner/innen finden Sie hier: Den Einsatz verdoppeln: Eine Strategie des Westens für die Ukraine und für sich selbst – L’Européen