Liberalismus: Warnung vor der Selbstzerstörung

Was auch immer man an der FDP auszusetzen haben mag – Schadenfreude über ihr Wahlfiasko ist für Demokraten unangebracht. Denn mit ihr fehlt im Bundestag eine Partei der demokratischen Mitte, was deren Widerstandskraft gegen die Radikalen von Rechts und Links weiter schwächt. Insbesondere in der Frage der militärischen Unterstützung der Ukraine, die von den Liberalen grundsätzlich befürwortet wird, fehlen ihre Stimmen, während AfD und Linkspartei, die ganz im Sinne des Kreml Waffenlieferungen an das überfallene Land stoppen wollen, im deutschen Parlament nun sogar über eine Sperrminorität verfügen.

Doch über diese aktuelle Situation hinaus bedeutet der Niedergang des organisierten politischen Liberalismus eine strukturelle Schwächung für die liberale Demokratie in Deutschland. Will dieser überleben, muss er sich jedoch entschiedener und mit viel größerer programmatischer Schärfe als bisher gegen eine Kraft stemmen, die ihn gleichsam von innen her aufzufressen droht: den “libertär” getarnten Autoritarismus, den amerikanische Tech-Oligarchen wie Elon Musk der freien Welt aufzwingen wollen.

Mit dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag ist der Fortbestand des politischen Liberalismus in Deutschland akut gefährdet. Es ist zwar nicht die erste existenzielle Krise in der Geschichte der liberalen Partei, doch dieses Mal ist die Gefahr besonders groß, dass sie als relevante Kraft in der deutschen Politik dauerhaft von der Bildfläche verschwindet.

Das liegt nicht nur an dem beklagenswerten Zustand der FDP selbst, die sich zuletzt selbst um ihre Glaubwürdigkeit gebracht hat. Nachdem sie 2021 in die Ampelkoalition mit den Sozialdemokraten und Grünen eingetreten war und damit ihre Bereitschaft bekundet hatte, eine lagerübergreifende Reform- und Modernisierungspolitik zu betreiben, verlegte sie sich bald darauf, Beschlüsse des Regierungsbündnisses zu blockieren und zu torpedieren. Dabei verengte sie ihr programmatisches Profil einmal mehr auf die Forderung nach Steuersenkungen und Kürzungen staatlicher Ausgaben.

Im Zuge dieser Entwicklung nahm die rhetorische Radikalisierung der FDP in Richtung “libertärer” Staatsfeindlichkeit deutlich zu. Das gipfelte in der Aussage des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, man solle “mehr Milei und Musk wagen”. Der populistische argentinische Ministerpräsident Javier Milei war mit der martialischen Ankündigung ins Amt  gekommen, er werde den Staatsapparat “mit der Kettensäge” verkleinern. Und Elon Musk “säubert” im Auftrag von Donald Trump exzessiv und mit zum Teil ungesetzlichen Mitteln staatliche Behörden von unliebsamen Beamten, entzieht aber auch wissenschaftlichen Institutionen, die den Wahnideen der Trumpisten nicht folgen wollen, die öffentlichen Gelder.

In dem Schwanken der FDP zwischen dem Bekenntnis zu staatspolitischer Verantwortung und dem  Liebäugeln mit dem rechts-“libertären” Prinzip der “Disruption” drückt sich eine Versuchung aus, die der liberalen Bewegung zum Verhängnis werden könnte. Nach dem Rücktritt Lindners, der die Partei im Stil eines unantastbaren Alleinherrschers geführt hatte, muss sich die FDP nun programmatisch neu definieren. Dabei gerät sie in die Gefahr, ihren liberalen Charakter gänzlich zu verlieren.

Putin-Apologet Kubicki

Denn eine Strömung, für die der langjährige stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Kubicki steht, will die FDP näher an den Rechtspopulismus heranrücken. Kubicki gehörte viele Jahre lang zu den schamlosesten Nachplapperern russischer Propaganda innerhalb der deutschen politischen Elite. So lehnte er nach der Krim-Annexion 2014 Sanktionen gegen Russland scharf ab und witterte im Maidan eine US-Verschwörung. Dennoch durfte er sogar noch nach dem 24. Februar 2022 nicht nur sein hohes Parteiamt behalten, sondern auch als Vize-Präsidenten des Deutschen Bundestags fungieren. Ausgerechnet er, der sich lange Zeit als Apologet der Putinschen Despotie hervorgetan hat, inszeniert sich dabei als unerschrockener Kämpfer für individuelle Freiheitsrechte.

Doch für den deutschen wie für den europäischen Liberalismus insgesamt gilt: Jede Annäherung an die “libertäre” Rechte käme seinem ideellen Selbstmord gleich. Denn die von US-Tech-Oligarchen wie Elon Musk und ihren Schallverstärkern in Europa propagierte Ideologie ist keine radikalisierte Variante des Liberalismus, sondern dessen vollständige Negation. Unter “Freiheit” verstehen diese Akteure die Beseitigung aller rechtsstaatlichen Hemmnisse, die ihren Weltherrschaftsfantasien im Wege stehen, und hinter ihrem Drängen auf unregulierte Märkte steckt ihr Bestreben nach der ungehinderten Bildung von Monopolen. In ihrem Munde verwandelt sich der Ruf nach mehr Freiheit in einen Kampfschrei für die Errichtung einer neuen autoritären Herrschaft. Musks Propaganda für rechtsradikale, kremlhörige Parteien in Europa wie die deutsche AfD spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache.

Für authentische Liberale hingegen sind ein stabiler, funktionierender Rechtsstaat und ein lebendiger gesellschaftlicher Pluralismus die unabdingbare Voraussetzungen für die Entfaltung individueller Freiheit und fairen wirtschaftlichen Wettbewerbs. Indem die Rechtslibertären diese Voraussetzungen zu zerstören versuchen, diskreditieren sie auch die politische Philosophie des Liberalismus, deren zentrale Begriffe sie usurpieren und ins Gegenteil verkehren. Liberale müssen daher um der Erhaltung ihrer politischen Identität willen an vorderster Front stehen, wenn es um die Abwehr dieses Angriffs auf die geistigen Fundamente der liberalen Demokratie geht. Denn im Gegensatz zu den Propagandisten der “Disruption” sind liberale Demokraten, wie der französische politische Philosoph Raymond Aron – einer der bedeutendsten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts -, festgestellt hat, „in dem Sinne grundsätzlich konservativ (…), dass sie die überkommenen Werte bewahren wollen, auf die unsere Zivilisation gegründet ist.“

Kind der Aufklärung

Wahre Liberale müssen dabei mit aller Kraft dem rechtslibertären Versuch widerstehen, im Namen der “Meinungsfreiheit” die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion, Lüge und Wahrheit zum Verschwinden zu bringen. Als Kind der Aufklärung steht der Liberalismus in der Pflicht, die klare Grenzziehung zwischen einem an Vernunft und Wissen gekoppelten Denken und der unter der Parole der “Meinungsfreiheit” verbreiteten entfesselten Irrationalität energisch zu verteidigen.

Es ist eine Sache, im Sinne liberaler Rechtsstaatsprinzipien für die Freiheit einzutreten, selbst noch so abseitige Meinungen öffentlich äußern zu dürfen, solange sie nicht Aufrufe zur Gewalt, Verleumdung, Rufmord oder andere strafbare Delikte beinhalten. Es ist jedoch etwas völlig anderes, offenkundig absurden, auf falschen Tatsachen oder freier Erfindung beruhenden Ansichten das gleiche Gewicht einzuräumen wie Argumenten, die auf belegbaren Fakten beruhen und rational begründet sind.

Nachdem es dem Rechtspopulismus bereits gelungen ist, die liberale Demokratie und ihre Grundsätze in weiten Teilen der westlichen Gesellschaften in den Verruf zu bringen, Herrschaftsinstrumente einer “abgehobenen Elite” gegen “das Volk” zu sein, missbraucht nun der “libertäre” Autoritarismus wesentliche Maximen des Liberalismus, um sie gegen die freiheitliche Demokratie zu richten. Liberale müssen daher heute mehr denn je beherzigen, was Raymond Aron einst konstatiert hat:  “Die Menschheit hat keine andere Hoffnung zu überleben als die Vernunft und die Wissenschaft.” Das gilt erst recht für den Liberalismus.

Der Tet ist die leicht überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Kolumne, die auf Deutsch zuerst hier und auf Ukrainisch hier erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt